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24
Jun

Elfriede Gerstl: Vorstöße in die allertiefsten Tiefen menschlicher Existenz

Der Droschl-Verlag macht sich um die Aufarbeitung des literarischen Werkes der Schriftstellerin (1932-2009) verdient. “Tandlerfundstücke”, Band vier der Werkausgabe, wurde im Literaturmuseum präsentiert. Der fünfte und letzte Band soll nächstes Jahr erscheinen.

Sie sei “ein auf Füßen gehendes Gedicht”, schrieb Elfriede Gerstl einmal, wie immer knapp und wie immer präzise. “Untertreibungskünstlerin” hatte der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler sie genannt.

Ihre ersten Gedichte veröffentlichte Gerstl 1955, da war sie gerade einmal 23 Jahre alt. Die letzten Lebenszeichen. Gedichte Träume Denkkrümel erschienen posthum 2009. Literarische Momentaufnahmen, von jedem Phrasenballast befreite autobiografische Beobachtungen aus den verschiedensten “Gesprächsbezirken”, wie es ihr Lebensmensch Herbert J. Wimmer einmal ausdrückte. Bis zu ihrem Tod im April 2009 schrieb Gerstl, bereits schwer krank, Essays, Gedichte, Gedanken, kein Wort zu üppig, kein Adjektiv zu viel, in aller gebotenen Kürze. Sie schrieb, herzzerreißend gnadenlos, zum Weinen fröhlich, über die dichterdroge oder wie man sich trotz alt & krank bei laune hält, fragte sich unsentimental, woher soll jemand der denkt wie ich trost holen, berichtete über neue plagen, den oldie-alltag und darüber, wie es sich im krankenzimmer anfühlt: “die schwäche ist meine partnerin / wir arbeiten gut zusammen.”

Gerstls Anerkennung erfolgte, ein österreichisches Künstlerschicksal, spät: “endlich hatte ich in der kleinen wiener szene randgruppenstatus erlangt, ein status, mit dem ich durchaus zufrieden war”, erinnerte sie sich in einem Essay für die Neue Zürcher Zeitung an die 1950er- und 60er-Jahre. Und anlässlich der Verleihung des Georg-Trakl-Preises 1999 bemerkte sie daher mit der ihr typischen Lakonie: “Ich bedanke mich für die Wertschätzung meiner Arbeit – spät, aber doch. Manche erleben’s ja nicht mehr und kriegen ein hübsches Bäumchen aufs Grab samt wohlgesetzter Hinterherrede.”

Gerstl-Wienerisch

Schade, bedauerte denn auch ihre Dichterkollegin Elfriede Czurda, dass Gerstl diesen Erfolg nicht mehr erleben konnte. Dieser Erfolg: Das ist die vorzügliche, von Christa Gürtler und Martin Wedl im Droschl-Verlag herausgegebene Werkausgabe. Nach Mittelmäßige Minis, Behüte Behütet und Haus und Haut sind nun die Tandlerfundstücke erschienen, versehen mit einem Nachwort von Gerstls Freundin Elfriede Jelinek und mit Illustrationen von Heinrich Heuer, Angelika Kaufmann und Herbert J. Wimmer. Vorgestellt wurde Band vier (der fünfte - Das vorläufig Bleibende – soll nächstes Jahr erscheinen) dieser Tage von Czurda, der Schriftstellerin Sabine Scholl sowie den Herausgebern in Wiens neuem Literaturmuseum.

Der Saal war brechend voll, als die Schauspielerin Ernie Mangold eine klug zusammengestellte Auswahl dieser Tandlerfundstücke las: so wunderbar übrigens, so wissend, so mitfühlend, humorvoll, so trocken und in diesem ganz speziellen Gerstl-Wienerisch, als hätte sie die Texte selbst geschrieben. Fraglos hatte die Schauspielerin die Schriftstellerin persönlich gekannt und geschätzt, diese scharfsichtige Weltenwanderin, die Wien aber nur selten und wenn, dann ungern verließ. Aber die dann doch nie sesshaft war, sondern von Kaffeehaus zu Kaffeehaus huschte, klein, unstet, eilig, als sei sie lebenslang auf der Flucht.

Sprachmächtige Gedichte

Als junges Mädchen aus jüdischem Hause, das mit Religion wenig im Sinne hatte, musste sie unsichtbar werden, im Dunklen verharren: “Als Kind habe ich einen Lichtstrahl gekannt; im Sommer 1942 lernte ich ihn kennen”, schrieb sie in einem der wenigen Texte, in denen sie über ihre Kindheit Auskunft gab, als sie die Nazis in engen, fensterlosen Räumen und Kleiderschränken versteckt überlebte.

Vielleicht rührte daher auch ihre große Sammelleidenschaft für Vintage-Mode, mit der sie handelte und tandelte – und die sie auch literarisch verarbeitete. Daher der passende Titel des aktuellen Bandes: Tandlerfundstücke. Unter den Texten aus sechs Jahrzehnten sind Theater- und Kunstkritiken, autobiografische Essays und, natürlich, Gerstls sprachmächtige, atemraubende Gedichte von zeitloser Eleganz und Brisanz.

Ihre literarischen Hinterlassenschaften sind (selbst-)ironische, illusionslose, schmerzhafte Vorstöße in die allertiefsten Tiefen menschlicher Existenz: “ich möchte niemandem / die maske vom gesicht reissen / ich will nicht sehen / was darunter alles nicht ist”, schrieb sie im Herbst 2008. (Der Standard, 23.6.2015)

Elfriede Gerstl, “Tandlerfundstücke”: Werke Band 4, Hrsg. Christa Gürtler, Martin Wedl, Droschl-Verlag, 354 Seiten, 29 Euro


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