Jorge Semprun, Costa-Gavras: Kein Kapitalismus ohne Krise | Andrea Schurian Schurian,Andrea+Schurian,

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28
Okt

Jorge Semprun, Costa-Gavras: Kein Kapitalismus ohne Krise

Jorge Semprún und Constantin Costa-Gavras waren die prominenten Gäste bei “Literatur im Nebel”.

Kein Hüsteln, kein Räuspern. Es ist, als ob 600 Menschen den Atem angehalten hätten, als Elisabeth Orth aus Jorge Semprúns Eine große Reise vorlas. Stille auch, als sie endet; erst nach Minuten setzt Applaus ein. Später wird Semprún, der große alte Mann der Weltliteratur, sie umarmen, sich bedanken und sagen, erst durch ihre großartige Lesung habe er selbst wirklich verstanden, was er geschrieben hat.

Standard: Herr Semprún, Sie sprechen sehr gut Deutsch. Es ist die Sprache Ihrer Feinde, die Sprache derjenigen, die Sie ins KZ Buchenwald deportiert haben.

Semprún: Es ist nicht die Sprache der Feinde. Die Menschen, die mich ins KZ gesperrt haben, sprachen nicht Deutsch. Das, was sie brüllten, hatte keinen deutschen Klang, das war überhaupt keine Sprache. Diese Brüllerei ist universell. Auch die Franquisten brüllten und sprachen nicht wie Cervantes. Nein: Ich denke nicht an Deutsch als die Sprache der SS. Ich habe Deutsch als Kind von meinem Schweizer Kindermädchen gelernt und in Buchenwald wieder geübt. Deutsche Literatur war wichtig für mich; ich bin so, wie ich bin, auch weil ich immer deutsche Literatur gelesen habe.

Standard: Monsieur Costa-Gavras, Sie haben Ihre Dreharbeiten unterbrochen, um zu “Literatur im Nebel” zu Ehren Ihres Freundes Jorge Semprún zu kommen?

Costa-Gavras: Natürlich! Je älter wir werden, umso enger wird unsere Beziehung. Ich bewundere ihn und verdanke ihm viel. Zum ersten Mal traf ich ihn Anfang der 1960er im Landhaus von Simone Signoret und Yves Montand. Untertags spielten wir Volleyball, abends diskutierten wir. Für den jungen griechischen Immigranten war das eine Erleuchtung. Meine kulturelle Sozialisation.

Standard: Herr Semprún, Sie haben Drehbücher geschrieben, auch für Costa-Gavras, etwa für den Politthriller “Z”. Planen Sie wieder ein gemeinsames Filmprojekt?

Semprún: Ja, angedacht ist ein Film über den spanischen Bürgerkrieg - erzählt über die Figur von André Malraux. Es soll aber kein dokumentarischer Film über Malraux werden, sondern es ist die Geschichte vom Ende der Republik.

Costa-Gavras: Es ist ja nicht so einfach mit Jorge. Ich muss ihn erst von seinem Schreibtisch loseisen. Wir arbeiten nämlich immer auf eine sehr spezielle Weise. Wir ziehen uns aufs Land zurück, unterbrechen die Arbeit nur, um zu essen. Und um Flipper zu spielen - Jorge ist da ein Meister. Wenn er seinen Roman beendet hat, werden wir das wieder tun.

Standard: Herr Semprún, in fast allen Romanen reflektieren Sie Ihre Zeit im KZ als prägendste Erfahrung Ihres Lebens. In Ihrem nächsten Buch beschäftigen Sie sich nun mit der Fantasie des Schreibens.

Semprún: Das stimmt - auch wenn ich es nicht will und über etwas ganz anderes schreibe, hat plötzlich doch ein Charakter des Buches etwas mit der Erinnerung an das Lager zu tun. Deshalb habe ich Unsere allzu kurzen Sommer geschrieben: über die Zeit vor dem Lager, über die Kindheit, die Jugend. Da konnte nichts von Buchenwald hineinkommen. Und in dem Roman, an dem ich gerade schreibe, gibt es auch - noch - niemanden mit Lagererfahrung. Arbeitstitel ist übrigens: “Augustferien“. Es handelt von Männern und Frauen, die alle illegale Kommunisten waren, gegen Franco gekämpft haben, jetzt aber nicht mehr kommunistisch sind - so wie ich auch. Diese Menschen treffen sich einmal im Jahr. Und dann kommen junge Leute dazu, die mit all diesen Erfahrungen nichts zu tun haben.

Standard: Herr Semprún schreibt an seinem neuen Roman, Sie beenden Ihren Film Eden is West. Worum geht es darin?

Costa-Gavras: Er ist eine Neuinterpretation der Odyssee, Ulysses, der nicht wieder nach Hause zurückkehrt, sondern eine neue Heimat finden will. Genau das tun heute tausende Boatpeople. Mein Protagonist durchquert Europa - der Film erzählt weniger über ihn, den Gestrandeten, als viel mehr über uns Europäer. Wir sagen immer, wir leben in einem Paradies, und in gewisser Weise tun wir das ja auch im Vergleich zu dem, was ich in Afrika und Südamerika gesehen habe. Aber was bedeutet das für diese Menschen, die bei uns eine neue Heimat suchen? Ich habe keine Antwort.

Semprún: Früher lebten in den Banlieues Polen, Italiener, Spanier, sie waren jüdisch-christlich und eventuell kommunistisch sozialisiert. Die neuen Zuwanderer haben eine andere Kultur. Man muss auf europäischer Ebene zusammenarbeiten in der Frage, wie wir diese Menschen integrieren. Sonst endet es in einer Katastrophe.

Costa-Gavras: Die Menschen in den Vorstädten sind ohne Zukunft. Ohne Jobs. Von der Polizei werden sie mitunter wie Tiere behandelt, grundlos verprügelt. Diese jungen Menschen werden Islamisten, weil sie kein Angebot von uns bekommen. Sie sind ja alle Franzosen, aber sie werden wie Ausländer behandelt. Sie haben keine Identität - außer ihrer Religion. Wir haben dieses Problem schon seit den 1980er-Jahren, seit Mitterrand, aber genau gar nichts ist dagegen unternommen worden.

Standard: Die aktuelle Wirtschaftskrise wird immer öfter mit jener von 1929 verglichen.

Semprún: Vergleiche gibt es immer. Allerdings war 1929 nicht nur das Jahr der Krise und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs; es gab auch den Fünfjahresplan in der Sowjetunion. Das bedeutete Hoffnung. Heute gibt es keine. Ist es die Endkrise des Kapitalismus? Nein. Ich glaube, es gibt kein Ende der Krise des Kapitalismus. Aber es gibt auch keine Endkrise. Krisen sind Funktionsmechanismen des Kapitalismus. Ohne Krise gibt es keinen Kapitalismus.

Costa-Gravas: Das Bankensystem fällt innerhalb weniger Wochen zusammen, ein System, von dem jeder gedacht hätte, es sei stabil. Die Banken waren sozusagen Richter, jetzt sind sie Räuber. Wird der Kapitalismus zerfallen? Ich weiß es nicht. Ich bin überzeugt, dass etwas noch nie Dagewesenes entstehen muss. So kann es nicht weitergehen. Wir leben in einem Paradies, aber Millionen sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Das ist unerträglich. Wir leben angeblich in einer christlichen Welt - aber wir teilen nichts. Wir sagen, Afrikaner müssen dort bleiben, wo sie herkommen. Es muss eine Lösung geben. Es wird eine kommen. Ich hoffe, eine gute.

Semprún: Der Kommunismus ist gescheitert, man weiß, dass man mit dessen Methoden die Welt nicht verändern kann. Und trotzdem ist die kapitalistische Gesellschaft keine gerechte Gesellschaft. Doch wo ist eine europäische sozialdemokratische Alternative? Jämmerlich die Linke, die keine Perspektiven entwickelt.

Standard: Wie beurteilen Sie Staatspräsident Sarkozy?

Costa-Gavras: Das ist eine seltsame Situation. Manchmal vertritt er Positionen, die früher die Linken in Frankreich hatten. Ich wählte ihn nicht, ich wählte Ségolène Royal. Aber andererseits: Die Welt fällt auseinander, wir haben eine enorme Wirtschaftskrise und, wie Jorge sagt, die Linken reagieren nicht. Die reden nur darüber, wer welche Position kriegt, wer Parteichef und wer der nächste Präsidentschaftskandidat wird. Das ist komplett verrückt. Die müssten doch einen Ausweg suchen, Visionen entwickeln. Die Leute rund um Sarkozy sind nicht nur Engel. Aber er versucht wenigstens, irgendetwas zu tun. Deshalb beobachte ich ihn mit gewisser Sympathie. Unser Land ist in einem schlechtem Zustand. Also hoffe ich, dass er erfolgreich ist. Nicht für ihn. Für das Land.

Standard: Herr Semprún, Sie wurden vom Untergrundkämpfer und ehemaligen Kommunisten zum - parteilosen Kulturminister.

Semprún: Wie mich Felipe Gonzales geholt hat, hat er zu mir gesagt: “Das ist ein schwieriges Land, du wirst gute und schlechte Tage haben. Aber wenn du in eine Provinz kommst und der Chef der Guardia Civil, also der Polizeichef, ruft dir Exzellenz zu, dann wirst du verstehen, warum ich dich zum Kulturminister gemacht habe.”

Standard: Kann man die Welt eher durch Kunst oder durch Politik verändern?

Semprún: Man kann Menschen verändern. Ein Künstler, der glaubt, er kann die Welt verändern, irrt.

Costa-Gavras: Ich glaube, das Kino hat die Welt verändert. Filme können die Welt verändern. Aber ich halte das für eine schlechte Möglichkeit. Nehmen Sie nur Leni Riefenstahl. Es ist besser, wenn Filme die Welt nicht verändern.

(Andrea Schurian, DER STANDARD/Printausgabe



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