Gerhard Roth: “Ich bin schreibsüchtig” | Andrea Schurian Schurian,Andrea+Schurian,

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08
Aug

Gerhard Roth: “Ich bin schreibsüchtig”

 

Der  österreichische Schriftsteller im Interview über “Die Stadt”, seinen jüngsten Essayband, über literarischen Vorbilder und persönlichen Höllen

A.Sch: In Ihrem neuen Buch “Die Stadt” schreiben Sie auch vom Wunder des menschlichen Körpers. Sind Sie gläubig?

Roth: Ich bin ein Skeptiker, ein Agnostiker. Wenn ich Filme von Andrej Tarkowski sehe, bilde ich mir ein, gläubig zu sein. Aber wenn ich die Ungerechtigkeiten betrachte, Gewalt, Krankheit, Tod, die Grausamkeit der Natur, das gegenseitige Fressen, dann bin ich mir sicher, dass Gott nur das eigene Unbewusste ist, das wir nicht verstehen.

A.Sch: Was motiviert Sie zum Schreiben? Was bewegt Sie?

Roth: Neugier. Schreiben und Lernen sind für mich sehr verwandt. Man schreibt ja nicht über das, was man weiß, sondern über das, was man wissen möchte. Sonst wäre es kein Abenteuer. Ich bin von den Dingen, die ich recherchiere, hypnotisiert. Ich bin kein fleißiger, sondern ein süchtiger Autor. Man sagt zu einem Trinker ja auch nicht, er sei ein fleißiger Trinker, sondern ein alkoholsüchtiger. Und ich bin schreibsüchtig.

A.Sch: Und wann haben Sie diese Sucht entdeckt?

Roth: Eigentlich hat das Schreiben über meine Großmutter aus Siebenbürgen begonnen. Sie hat mich immer zum Erzählen ermuntert und das dann aufgeschrieben. Und mein Großvater mütterlicherseits hat mir sein Leben erzählt, immer wieder. Da habe ich gespürt: Ich möchte das aufschreiben.

A.Sch: Was brauchen Sie zum Schreiben?

Roth: Einen Winkel, wo ich Platz für meine Sachen habe und einen raschen Zugang zu einer Bibliothek. Heute bin ich darauf vielleicht ein bisschen weniger angewiesen, weil es Google gibt.

A.Sch: Sie schreiben mit der Hand. Einige Ihrer Kollegen können nur weiterschreiben, wenn die Seite völlig fehlerfrei und ohne Striche ist.

Roth: Ich glaube, der Schreibneurotiker steckt in jedem Schriftsteller. Das kann man überwinden, sobald man entdeckt, wie schön eine Durchstreichung ist. Da sieht man, wie skrupulös der Arbeitsvorgang ist. Dass es nicht etwas Magisches ist, sondern dass das Schreiben das Denken abbildet, das ohne Zeit und Raum ist. Bei dem Buch Orkus, an dem ich gerade arbeite, versuche ich das wiederzugeben. Ich gehe einer zeitlichen und räumlichen Zickzacklinie nach und versuche umzusetzen, was im Denken und im Gespräch möglich ist.

A.Sch: Wovon handelt es?

Roth: Es ist eine Fortsetzung vom Alphabet der Zeit als innere Biografie: Welche literarischen Figuren haben mich beeinflusst? Wer sind meine Vorbilder? Ich vermische Erfundenes und Tatsächliches, so wie das in einem Gespräch als Selbstverständlichkeit abläuft.

A.Sch: Welche sind Ihre literarischen Vorbilder?

Roth: Immer wieder gelesen habe ich “Moby Dick” von Herman Melville, es ist ein großartiges Sprachexperiment: Da gibt es Shakespeare’sches Englisch, biblisches Englisch, eine wissenschaftliche Sprache; und alle Figuren haben eine zweite Ebene. Auch “Der Fremde” und “Die Pest” von Albert Camus, “Ulysses” von James Joyce , die Erzählungen von Franz Kafka, von Laurence Sterne “Tristram Shandy”. Aber Melville hat mich sicherlich am längsten begleitet.

A.Sch: Ein Kritiker hat sie als “Investigator der österreichischen Gesellschaft, Analytiker der österreichischen Seele und Archäologe der österreichischen Geschichte” bezeichnet. Sehen Sie sich so?

Roth: Ich sehe mich als Schriftsteller. Viele meiner Romane und Essays spielen gar nicht in Österreich. Diese Etikettierungen beziehen sich also nur auf einen Teil meiner Arbeiten. Ich habe die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in meine Zyklen integriert wie andere Autoren die Monarchie. Man würde weder Musil noch Broch, Doderer, Joseph Roth oder Karl Kraus als etwas anderes als Schriftsteller sehen. Ich stehe in einer österreichischen Tradition, ohne dass ich mich ihr verpflichtet fühle. In meinen Romanzyklen versuche ich, den Nationalsozialismus als menschliche und geschichtliche Katastrophe in das Denken zu integrieren. Er ist ein komplexes Phänomen: Könnte man darauf eine kurze Antwort geben, hätte ich nicht meine Bücher zu schreiben brauchen. Anstelle der historischen Betrachtungen setze ich eine künstlerische Sehweise, wie Goya in den “Desastros de la guerra” die Schrecknisse des Krieges in Radierungen dargestellt hat. Es ist eine mikroskopische Sehweise auf das Einzelne, den Einzelnen, auf die Vergessenen.

A.Sch: Legen Sie deshalb auch im Essayband “Die Stadt”, neben dem Naturhistorischen Museum, den Fokus auch auf das Gehörlosen- und Blindeninstitut, auf das Asylantenheim?

Roth: Da geht es mir um die andere, sozusagen die unsichtbare Wirklichkeit, um die Vergessenen, die Normalität im Abseits. Die Geschichte der Flüchtlinge wiederum ist wie ein Roman von Franz Kafka. Die Hoffnungen, die Reise mit den Schleppern, das Lager, das Warten auf eine Erlaubnis, das Schloss zu betreten; die Abschiebung, ohne je hinter die Mauern gelangt zu sein: Alle diese Themen haben eine eigene Traumwelt, Denkwelt, Wirklichkeitswelt. Das Naturhistorische Museum ist eine Arche Noah toter Tiere, Menschen, Pflanzen. Aus dieser Totenwelt ergeben sich neue Zusammenhänge, aus denen wir das Leben besser verstehen können. Es ist auch ein Museum des naturwissenschaftlichen Denkens, sozusagen der Normalität dieses Denkens.

A.Sch: Sie zitieren Conrad - “im Herzen eine ungeheure Finsternis” - und schreiben vom “Theater der Grausamkeit”. Was hat Sie am meisten bestürzt? Was ist Ihre persönliche Hölle?

Roth: Wenn ich mich mit Opfern beschäftigen muss, die Geschichte der Blinden, der Gehörlosen. Die Umstände, die Menschen zur Flucht zwingen. Und natürlich der Holocaust: dass Menschen fähig sind, das zu tun. Meine persönliche Hölle nimmt sich dagegen unwichtig aus. Am liebsten würde ich die Frage scherzhaft beantworten, wie: Wenn ich vergessen habe, wo ich mein Auto geparkt habe; oder: ein Abend ohne eine Flasche Wein.

Zur Person:
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz; Essayist, Drehbuchautor, Romancier. Sein siebenteiliger Romanzyklus “Die Archive des Schweigens” ist eine scharfsichtige Vergangenheits- und Gegenwartsanalyse. 2007 erschien seine Autobiografie “Das Alphabet der Zeit”.

 

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